Die Dozenten von WennHeldenReisen, der ersten fotografischen Kunstakademie, gewähren in unserer neuen kleinen Serie Einblicke in ihre Herangehensweise an bestimmte Motive. Dieses Mal ist es Martin Timm zum Thema Porträt – ganz anders.
Ich liebe Birnen. Ich mag, wie sie aussehen, sich anfühlen und meist auch, wie sie schmecken. Außerdem kenne ich kaum ein betörenderes Geräusch als das saftig-schlürfige Tropfen, wenn man reinbeißt. Birnen berühren mich – Grund genug für ein Porträt.
Viele verstehen darunter eine Person im Bild: Ein Mensch wird gezeigt – am besten so, wie er aussieht, oder so, wie er „gut aussieht“. Dann finden die meisten von uns ein Porträt gelungen.
Der Ausdruck Porträt hat für mich eine hohe bildnerische Autorität, und das beflügelt meinen Blick auf jedes Motiv. Wenn ich daran denke, dass ich mit jeder fotografischen Aktion etwas porträtieren kann, gehe ich aufmerksamer mit Kamera und Motiv um. Vielleicht finde ich es deshalb so sinnvoll, Porträtmotive nicht nur auf Personen zu beschränken.
Wenn ich den Begriff Porträt weitergehend verstehe, kann ich seinen Anspruch an mich noch genauer fassen. Es gibt ja sehr viele Fotos, die zwar eine Person zeigen, aber gar keine Porträts sind – und: Ich kenne zahlreiche Naturfotos, Stills und Architekturbilder, die für mich eindeutige Merkmale eines Porträts haben. Auch wenn kein einziger Mensch darauf zu sehen ist.
Das Wort stammt vom lateinischen portrahere, also: hervorziehen. Ein gutes Porträt zeigt also nichts, was man auch vorher schon sehen konnte, sondern es macht sichtbar, offenbart.
Es geht um etwas, was man eigentlich nur ahnen, fühlen oder sich denken kann: einen charakteristischen Wesenszug des Motivs, ein persönliches Gefühl oder eine Assoziation, die man im Motiv wiederfindet. Es kann aber auch einfach nur die sinnliche Lust an einer geschwungenen Form sein, einer anregenden Farbe, einem matten Schimmer oder der Genuss einer rhythmischen Textur.
Ein bloßes äußeres Abbild wäre mir also zu banal. Wie eine Birne aussieht, weiß ohnehin jeder.
Worum genau es mir geht, kann ich vorher nur selten sagen – meist erschließt es sich mir erst während des Tuns. In jedem Fall um einen persönlichen Bezug zwischen meinem Motiv und mir.
Porträtieren, nur was man liebt – eine Freiheit, die für mich die gefühlvollste Art ist, sich zu nähern und nach einer Form zu suchen. Genauer: nach Ausdruck, der sich hervorziehen ließe. Aber was kann man schon aus einer Birne hervorziehen? Wie kann ich von einer Birne ein Porträt machen, ist sie dafür nicht zu banal?
Ich nähere mich, begebe mich in den Makrobereich und gehe in mich – versuche, bewusster zu fühlen: Warum mag ich sie so? Was genau macht mir dieses Sympathie-Gefühl? Ihre mutige Keulenform? Die raue Oberfläche? Die verräterische Konsistenz? Vielleicht ihr Duft oder der Geschmack?
Das Letztere reizt mich. Er ist es noch nicht ganz, aber der Gedanke ans Schmecken führt mich schon mal nach innen. Ich schneide sie auf und sehe mir das Fleisch an.
Früchte sind das Einzige, was die Natur genau dafür produziert, dass es gegessen wird. Deshalb sind Früchte darauf angewiesen, lecker zu wirken. Sie leben von ihrer Leckerness, und ich sehe nach, ob ich vielleicht genau das mit der Kamera hervorheben möchte.
Dafür lege ich sie vors Küchenfenster ins Gegenlicht, helle die vorn entstehenden Schatten mit einem weißen Blatt Papier auf und befeuchte die Schnittfläche oben leicht mit einem Blumensprüher. So glitzert das Fenster einen leichten Schimmer in die Tropfen hinein:
Mmmh. Sehr angenehm, mein Topmodel heute. Aber noch zögere ich. Der Geschmack allein ist es noch nicht, auch die saftige Haptik scheint mir einen Hauch zu vordergründig, auch das Glitzern interessiert mich nicht genug. Irgendetwas ist da noch, was mich zusätzlich anregt. Ich glaube, es ist eine kleine irrationale Idee. Eine, die zunehmend zu einer großen wird, je länger ich an sie denke: Ich glaube, es ist die von der Verknüpfung zweier Welten.
Mein Gedanke: Die Frucht als etwas, was unbedingt gegessen werden will – sie lebt davon, außen zu verheißen, was sie innen verbirgt. Ihr Outfit als Versprechen fürs Auge, auch für den Blick der Kamera: ein Verweis auf ein lichtes Innenleben mit einer feinen, leicht amorphen Struktur und leisen Linienzügen.
Wenn ich mit diesem Porträt wirklich hervorziehen möchte, was mit jetzt gerade auffällt, gibt es nur einen Weg: Ich muss zeigen, wie diese beiden Welten sich verschwistern.
Der Entschluss steht fest: Ich werde die Birne als transluzente Scheibe fotografieren, also im Durchlicht. Dafür schneide ich von der Schnittfläche mit einem sehr scharfen Messer eine möglichst dünne Scheibe ab und platziere sie vorsichtig auf einer Plexiglasplatte. Die gibt es günstig, alt und schön zerkratzt in der Resteabteilung eines jeden Baumarkts.
Die Platte samt Birnenscheibe lege ich waagerecht auf zwei senkrecht stehende Mauersteine, einen rechts, einen links – und dazwischen: Raum. In diesen klemme ich im 45°-Winkel eine passend zugeschnittene Pappe, auf der eine fein zerknitterte Alufolie klebt.
Das ganze Arrangement richte ich gegen ein helles Fenster, so dass die schräg sitzende Alufolie das Fensterlicht senkrecht nach oben unter die Plexiglasplatte reflektiert und dabei die Birne von unten durchleuchtet. Das vorherige Zerknittern lässt das reflektierte Licht zwar immer noch angenehm gerichtet erscheinen, es verteilt sich aber weicher und gleichmäßiger über das Bildfeld.
Fotografiert wird nun vertikal von oben. Nur wenn kein Streulicht von oben auf sie trifft, kommt das Birnenfleisch schön deutlich heraus. Deshalb schirme ich das Oberlicht mit dunklen Pappen oder schwarzen Tüchern möglichst vollkommen ab. Die Kamera steht jetzt auf einem Stativ, dessen Beine um den Aufbau herum drapiert sind.
Durch das Gegenlicht von unten könnten allerdings so hohe Kontraste entstehen, dass die dunklen Partien in der Birne zu wenig Details zeigen. Damit diese nicht in schwarzen Schatten untergehen, habe ich mir einen besonderen Trick ausgedacht: Ich kombiniere Food mit HDR, das gibt es sehr selten.
Dazu fertige ich einfach mehrere unterschiedlich helle Aufnahmen an. Diese füge ich am Rechner mittels HDR-Tool zusammen, und es ergibt sich ein sanft leuchtender Effekt mit wunderschöner Detailzeichnung. Hier sogar noch mit einem lauschigen Lichthof, der die keulenförmige Außenwelt betont.
Mit diesen Aufnahmen habe ich etwas herausgefunden: Das Schönste an einer Birne war für mich heute eine Fantasie, die sie in mir entfacht hat. Nämlich dass sie ihr Innenleben ebenso anmutig verspricht wie verbirgt. Mein Bild, meine Vorstellung von Fleisch, Raum und allem, was sie in sich beschützt: das transluzente Geheimnis und dazu ihr schwungvolles Drumherum. Wie eine grobe Keule und doch wie eine feine, zarte Umhüllung. Ich habe ihr den Gefallen getan, sie eben gegessen – und bilde mir ein, dass ich das schmecken kann.
Man kann es banal finden, aber für mich strahlt all das Anmut, Würde und pflanzliche Intelligenz aus. Das möchte ich gern sichtbar machen, hervorziehen. Eben porträtieren.
Text und alle Bilder (c) Martin Timm, WennHeldenReisen
Weiterführende Links
Carmen Kubitz zum Thema “Pflanzenfotografie”
Über: WennHeldenReisen
WennHeldenReisen ist die erste fotografische Kunstakademie. Sie bietet eine zweijährige Ausbildung, die gut mit Beruf und Familie vereinbar ist,
Die Bausteine der Ausbildung sind einführende Sommer- und Winterakademien, vier themenzentrierte Impulswochen, die in zwei Jahren an vier Location stattfinden und ein durchgängiges individuelles Coaching, um das sich drei aufeinander abgestimmte Dozenten kümmern.
Das interdisziplinäre Konzept ermöglicht einen mutigen Blick über den fotografischen Tellerrand hinaus. Intensiv begleitete Projekte fördern ein weiträumiges Verständnis genauso wie die Praxis am Motiv. Wer erst einmal schnuppern möchten, bucht vorab einfach eine der alljährlichen Sommer- oder Winterakademien. Hier gibt es fruchtbaren Austausch, Begegnungen und Synergien mit Gleichgesinnten.
Mehr Infos: http://www.wennheldenreisen.de/